Scheißegal sind den Russen ihre Kinder nicht, schon weil es „den Russen“ nicht gibt. Aber es gibt ein in der russischen Gesellschaft vorherrschendes Menschenbild und das nicht erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Auch darüber spricht der russische Philosoph Alexander Zipko (Александр Сергеевич Ципко) mit dem SPIEGEL (Ausgabe Nr. 23/206 vom 4. Juni 2016 … Dank an TK_LengaDOc
, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hat ). Legal kann nobody
das SPIEGEL-Interview mit Zipko nicht liefern, aber похуй! 😎
Der SPIEGEL schreibt über Zipko, dass er im Institut für internationale Wirtschaft und Politik an der Russischen Akademie der Wissenschaften arbeitet und in den Achtzigerjahren zur Perestroika-Bewegung um Gorbatschow gehörte. Zipko war wegen seiner Sympathien für die polnische Solidarność vom KGB observiert worden und hat auch in Japan und den USA gearbeitet. Gorbis Nachfolger Boris Jelzin bot ihm mehrfach Ministerposten an, die Zipko wegen dessen gewaltsamen Vorgehens gegen die Opposition ablehnte. Die Übernahme des Präsidentenamts durch Putin begrüßte er, heute ist er einer der schärfsten öffentlichen Kritiker des Kreml.
„Bereit, alles niederzubrennen“
SPIEGEL-Gespräch Der Moskauer Philosoph Alexander Zipko war unter Gorbatschow ein Vordenker der Perestroika. Heute glaubt er, dass Russland in die Hände verrückt gewordener Patrioten gefallen ist.
SPIEGEL: Alexander Sergejewitsch, in einer Umfrage sagt mehr als die Hälfte der Russen, ihr Land gehöre nicht mehr zu Europa. Überrascht Sie das?
Zipko: Nein. Das ist ein Beleg für jene geistige Krise, in der sich Russland gegenwärtig befindet. Selbst zu sowjetischer Zeit verstanden die Menschen: Russland ist Teil der westlichen Zivilisation. Damals wurden bei uns nicht – wie heute – Westen und Osten gegenübergestellt, sondern Kapitalismus und Kommunismus. Und der Marxismus als angeblich fortschrittliche Idee war ja aus dem Westen gekommen. Jetzt ist dieser Westen laut offizieller Propaganda unser Feind. Und die meisten akzeptieren das. Wir Russen sind leichtgläubig und beeinflussbar. Es gibt russische Philosophen, die sagen, es fehle uns die Fähigkeit zum eigenständigen Denken.
SPIEGEL: Viele russische Denker haben die Zukunft ihres Landes immer mit dem Westen verbunden.
Zipko: Es gab auch nach 1991 dieses Bedürfnis, diesen großen Wunsch, wieder Teil der westlichen Welt zu werden, die Selbstisolation und den Kalten Krieg hinter sich zu lassen. Dann kamen die Bombardierung Belgrads und der Krieg im Irak, mit beiden Ereignissen wuchs die antiwestliche Stimmung. Trotzdem strebten und streben die Russen weiter nach einem westlichen Lebensstandard: Wohlstand, eine ordentliche Wohnung, ungehindertes Reisen, Recht auf Emigration. Sie schätzen also westliche Werte, nur den Wert der individuellen Freiheit erkennen sie nicht. Es wird ihnen auch nach wie vor eingeredet, dass das Wohl des Landes über allem stehe, die Bedürfnisse des Einzelnen nicht wichtig seien. Dass man zuallererst russischer Patriot sein müsse, weil Russland angeblich wieder mal eingekreist und auf sich allein gestellt sei. Und viele glauben an die verlogene Theorie von der besonderen russischen Zivilisation, zu der Russland jetzt angeblich zurückgekehrt sei und in der das Materielle wie auch die individuelle Freiheit keine große Rolle spielen – dafür umso mehr Gott, Staat und Familie. Diese Theorie ründet sich vor allem auf Konstantin Leontjew, einen religiös-konservativen Philosophen des 19. Jahrhunderts.
SPIEGEL: Ein Vorläufer Nietzsches.
Zipko: Leontjew meinte, dass die westliche Freiheit eine Sünde sei. Es gibt bei ihm sogar den schrecklichen Gedanken, niemand könne sagen, wo der Mensch glücklicher sei – in einem despotischen Staat oder in einem freiheitlichen. Russland hat begonnen, die übrige Welt als Antiwelt zu sehen: Wir lehnen jetzt nicht nur den Westen ab, sondern auch dessen Humanismus.
SPIEGEL: Putin spricht von der westlichen Dekadenz, betont den russischen Konservatismus und beruft sich dabei auf angesehene russische Philosophen. Der Sinn des Konservatismus bestehe darin, die Rückkehr in die „chaotische Finsternis“ zu verhindern.
Zipko: Das sagt auch Russlands orthodoxer Patriarch Kirill. Aber die Idee einer besonderen russischen Zivilisation und Moral, die der des Westens überlegen sei, ist weder besonders christlich, noch stimmt sie. Christus lehrte, dass alle Völker gleich seien. In der Idee der besonderen russischen Zivilisation hingegen kann man Elemente des Rassismus finden. Tatsächlich verbergen sich hinter der antiwestlichen Stimmung die ewig russischen Probleme.
SPIEGEL: Welche meinen Sie?
Zipko: Diesen russischen Maximalismus beispielsweise, also die Devise: alles oder nichts. Russland leidet unter einem mangelnden Realitätssinn. Es hat ein nur schwach ausgeprägtes Rechtsempfinden. Die Verteilung von Gütern wird für wichtiger gehalten als ihre Produktion. Und vor allem ist das Land nicht in der Lage, die Gründe des eigenen Elends zu analysieren. Russen suchen Fehler immer bei anderen, nie bei sich selbst. All diese traditionellen Mängel des russischen Nationalbewusstseins haben die Bolschewiki in ihrer Revolution 1917 ausgenutzt. Die war weniger ein Drang zur Freiheit als eher ein Wunsch zur Destruktion. Die Russen von heute sind nicht viel weiter als die Bauern zur Zeit der Revolution. Sie sind enttäuscht darüber, dass der schnelle Anschluss an Europa nicht gelang. Und verändern nun einfach ihre Sicht auf jene Welt, die sie an ihre Unvollkommenheit erinnert. Mit Wahrheit und Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Dazu gehört auch der Umgang mit der eigenen Geschichte. Die orthodoxe Kirche beispielsweise will nicht, dass die Russen mehr über Stalins Verbrechen erfahren. Sie sagen: Das würde die Russen entmutigen und ihren Glauben an sich selbst zerstören.
SPIEGEL: Viele Russen kommen tatsächlich mit dem neuen Europa nicht zurecht: mit dem multikulturellen Leben dort, mit dem – wie sie sagen – gottlosen Liberalismus. Haben sich beide Seiten entfremdet?
Zipko: Dass das heutige Russland religiöser und näher an Gott sein soll als Westeuropa, ist ein Mythos. Lediglich fünf bis sechs Prozent der Russen sind Kirchgänger, weniger als in den meisten katholisch oder protestantisch geprägten Ländern. Die Tragödie des heutigen Russland besteht darin, dass es den Westen wegen dessen angeblicher Ungläubigkeit und der Aufgabe traditioneller Werte kritisiert, aber selbst nicht an grundsätzliche christliche Werte glaubt. Die Zahl der Abtreibungen ist hoch. Der Kirchenführer Kirill wird nur von sehr wenigen als moralische Autorität wahrgenommen. Die Hälfte aller Russen verehrt immer noch Stalin, einen Mann, der Millionen Menschen ermorden ließ.
SPIEGEL: Eine Flucht in die Russifizierung gab es in Russlands Geschichte schon oft: unter Nikolai I. und Zar Alexander III. oder nach 1945. Ist das auch jetzt ein vorübergehender Prozess?
Zipko: Wenn ich ehrlich bin: Bislang finde ich keine Argumente dafür, dass wir da wieder herauskommen. Und das ist fürchterlich. Die Revolution vor fast hundert Jahren hat große Teile unserer Intelligenz vernichtet, das Land ist genetisch verändert worden. 70 Jahre lang hat man uns abgewöhnt, Verantwortung zu übernehmen. Und wegen der bis dahin hohen Ölpreise glaubten alle, der Staat habe den Wohlstand einfach nur zu verteilen, sie selbst müssten nichts tun. Nachkriegsdeutschland wurde von der Mittelschicht aufgebaut, auch in Japan war das so. In Russland ist sie bis heute nicht wiedererstanden.
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