Er schreibt mit Galgenhumor gegen seinen Tod an, denn Wladimir Sorokin, wohl einer der größten zeitgenössischen Literaten Russlands, einer, der Zar Vlad I. Reich noch nicht verlassen hat, weiß, dass er Boris Nemzow bald folgen könnte. Aus der aktuellen ZEIT (Druckausgabe):
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„Putins Zeitmaschine“
Russlands Präsident handelt wie ein Science-Fiction-Autor. Er vermag es, ein ganzes Land in die Vergangenheit zu stoßen, in der Oppositionspolitiker wie Boris Nemzow wieder zu gefährdeten Dissidenten werden
VON WLADIMIR SOROKIN

Der große englische Science-Fiction-Autor H. G. Wells, der mit kinematografischer Detailliertheit die Reise eines Menschen in der Zeit beschrieb, hat in seinem berühmten Roman Die Zeitmaschine (1895) eines nicht berücksichtigt: die Wirkung dieser ungewöhnlichen Reise auf die Psyche des Reisenden. Der Mensch ist bekanntlich ein Wesen seiner Zeit. »Versucht, der Zeit mich zu entreißen! Ich garantiere euch, ihr brecht euch das Genick«, schrieb der Dichter Ossip Mandelstam in den Jahren des Stalin-Regimes. Ihn der Zeit zu entreißen vermochte, wie man weiß, erst die unbarmherzige Maschinerie des Gulag. Wells’ Roman brachte eine ganze literarische Gattung hervor, die fantastische Zeitreise. In den meisten dieser Bücher und Filme blieb die Psyche des Reisenden im Fluss der Zeit allerdings ebenso ausgeklammert wie bei Wells. In der Regel kehrt der Held glücklich und voller intensiver Eindrücke in seine Zeit zurück.
Während mit der durchaus realen Reise in die Zukunft alles mehr oder weniger klar zu sein scheint, bewegt die Möglichkeit einer zeitweiligen Rückkehr in die Vergangenheit nach wie vor die akademischen Gemüter. Die Theo retiker liefern sich auf Konferenzen hitzige Diskussionen über dieses Thema, ohne zu ahnen, dass bereits eine riesige Zeitmaschine gebaut wurde, die sich erfolgreich auf den Weg in die Vergangenheit gemacht hat. Das Erstaunlichste ist, dass hier nicht, wie bei Wells, ein einsamer Held die Reise angetreten hat, sondern ein ganzes Land – die 140 Millionen Bürger der Russischen Föderation. Auf ein derartig kühnes Experiment kann sich nur einlassen, wer von dieser Idee wahrhaft besessen ist. Und an Besessenheit mangelt es den Russen nicht – erinnern wir uns nur an das 20. Jahrhundert und sein kommunistisches Projekt. Mutmaßlich war eben deshalb auch der erste Mensch im Weltall ein Russe …
Doch wer hat diese Zeitmaschine gebaut und sie in Gang gesetzt? Ein im Großen und Ganzen durchschnittlicher Mann, ein ehemaliger Mitarbeiter des KGB, der bei dieser Behörde keine bemerkenswerte Karriere gemacht hat und nach dem Zerfall der UdSSR ein halbwegs erfolgreicher Staatsbeamter wurde, sich dann Schritt für Schritt emporarbeitete und plötzlich von dem kranken Boris Jelzin auf die Spitze der russischen Machtpyramide gehoben wurde – völlig unerwartet und hauptsächlich deshalb, um die Sicherheit von Jelzins Familie zu gewährleisten. An der Spitze dieser uralten, schon von Iwan dem Schrecklichen errichteten Pyramide erwachen in den Menschen Fähigkeiten, von denen sie zuvor nicht einmal ahnten, dass sie sie besitzen. Es ist wie im Märchen: Ein ganz normaler Mann streift den Ring der Macht über den Finger und wird zum Sauron. Und so erwachte in diesem durchschnittlichen Mann eine derart brutale Liebe zur Macht, ein derart großer Wunsch, alles dafür zu tun, den Zauberring für immer mit seinem Finger verschmelzen zu lassen, dass Genosse Stalin in seinem Sarg beifällig lächelte. Auch er hatte die Macht vergöttert und sie sich mithilfe einer wirksamen Formel erhalten: Fortgesetzter Massenterror plus Mythos von der lichten Zukunft plus Eiserner Vorhang. Wie aber kann man sich im 21. Jahrhundert an der Spitze dieser wunderbaren Pyramide halten, im Zeitalter von Internet und Demokratie, von offenen Grenzen und Hochtechnologie?
Das Gehirn des neuen Regenten Russlands gab seine Wunderformel preis: eine Zeitmaschine. Sie würde ihm helfen! Vom ersten Tag seiner Regierungszeit an machte er sich mit ameisenhafter Emsigkeit daran, diese Maschine zu bauen, Schräubchen für Schräubchen. Der äußerlich bescheidene, unscheinbare Mann legte auf diesem Gebiet eine enorme Ausdauer an den Tag. Schließlich war die Zeitmaschine fertig. Mit vor Aufregung schweißfeuchter Hand legte er den Steuerhebel um. Und das riesige Land begann zurückzugleiten in eine Vergangenheit, von der Millionen russischer Rentner träumten, während sie in ihren Betten schlummerten. Die vergangene Größe des sowjetischen Imperiums! Es waren nicht nur die Rentner, denen sie keine Ruhe ließ, sondern auch die postsowjetischen Neoimperialisten, die Nationalbolschewisten und die Neomonarchisten, die meinten, Stalin sei nichts weiter gewesen als »ein normaler russischer Zar, bloß etwas grausam«.
Die Sehnsucht nach der sowjetischen Vergangenheit bildete den Treibstoff für Putins Maschine. Längst nicht alle hatten in den 1990er Jahren die verdorrte Nostalgie auf den Müll geworfen. In Form naphthalingetränkter Pressstücke wurde sie in den Schatullen und Kommoden der Großeltern eingelagert. Und um nun die Bevölkerung diese Briketts hervorholen und in den Ofen der Zeitmaschine werfen zu lassen, war eine weitere Maschine vonnöten: die Propaganda. Der Fernseher wurde zur Propagandamaschine. Es begann mit Remake sowjetischer Filme und Lieder, die jetzt von jungen Popstars interpretiert wurden, mit Talkshows, in denen grauhaarige Stalinisten der Jugend erzählten, wie mächtig die UdSSR gewesen, wie sehr sie vom Westen gefürchtet und geachtet worden war, und es begann mit dem Totschweigen von Gulag und Massenrepressionen. Parallel dazu wurden unabhängige Programme abgesetzt, ganze Fernsehkanäle geschlossen, und die Kontrolle über die Massenmedien wurde verstärkt. Die Reise zurück hatte begonnen, der Countdown lief, das Land glitt langsam rückwärts in die späte Breschnew-Ära: Ein Einparteiensystem setzte sich durch, aus Oppositionspolitikern wurden Dissidenten, Antiamerikanismus wurde zum Gemeinplatz. Und noch einmal fünf Jahre später haftete dem Ganzen bereits der Ruch des Stalinismus an: Wahlen waren nur noch eine Fiktion, die Politiker-Dissidenten standen vor Gericht oder waren emigriert, Gerichte und Parlament waren Putins Sprachrohr. Beflügelt vom Erfolg, trat er noch kräftiger in die Pedale seiner Zeitmaschine: rückwärts, rückwärts, noch schneller! Schon weicht die sowjetische Rhetorik einer imperialen, schon wird die Maxime des Zaren Alexander III. – »Russland hat nur zwei Verbündete, die Flotte und die Armee« – zum Staatsprogramm. Schon ist in Talkshows vom »russischen Sonderweg« die Rede, von unserer außergewöhnlichen seelischen Tiefe, die Russland vor dem verdorbenen, geistlosen Westen bewahrt. Kirche und Staat wachsen immer enger zusammen, Geheimdienstgeneräle bekreuzigen sich mit weit ausholender Geste auf dem Fernsehschirm. »Russland war immer imperial und wird es immer bleiben!«, rufen schon junge Schriftsteller und Politberater.
Doch ein Imperium bedarf militärischer Siege und neuer Räume, die dem Feind abgerungen werden. Und da ist er, der Sieg: »Die Krim ist unser! « Der Fernseher läuft heiß vor Siegesgeheul, die Zeitmaschine fängt an zu rütteln. Man sollte, so scheint es, abbremsen und überlegen. Doch da ereilt die Zeitreisenden ebenjene Trübung des Urteilsvermögens, die Wells mit Stillschweigen überging, und die Münder unserer Staatsmänner tun sich auf: »Panzerdivisionen nach Kiew schicken!« – »Atomwaffen gegen die Ukro-Faschisten!« – »Russland braucht einen Imperator!« – »Der Besitz von Dollar gehört verboten!« – »Wiedereinführung der Todesstrafe, Hinrichtung der Pädophilen, Perversen und der Feinde Russlands!« – »Fremdsprachenunterricht in der Schule untergräbt die russischen Traditionen!« – »Es müssen Ausreisevisa eingeführt werden!« – »Die fünfte Kolonne hinter den Ural!«
Angela Merkel (und nicht nur sie) bemerkte: »Putin lebt in seiner eigenen Realität.« Oh ja! Diese Realität ist aufregend, berauschend, seine Füße treten das Pedal von selbst, die Kugellager der Maschine laufen heiß. Sie braucht mehr Treibstoff, Nostalgie allein ist zu wenig, die Propaganda imperialer Ideen nicht mehr ausreichend – ein realer Krieg ist vonnöten, echtes Blut, das Blut der Helden, die für das Donbass, für Neurussland, für die russische Idee gefallen sind, ein Krieg gegen den Westen, bis zum siegreichen Ende! In Minsk hat er diese weichlichen europäischen Politiker geschlagen. Vor ihm liegen neue Schlachten, neue Siege! Ein neues Stalingrad, irgendwo bei Charkow, ein weiterer Sieg, und Charkow, zerstört und erobert, wird umbenannt in Putingrad, der Sieger hält Einzug in die Stadt auf einem weißen Pferd, mit dem Schwert von Alexander Newski, in weißer Uniform, nein, im Judo-Kimono, nein, besser topless, ein neuer Conan der Barbar, nur eben kein Barbar, sondern ein Sieger, der Bewahrer der russischen Welt, es gibt eine Siegesparade und danach die Krönung des neuen Imperators von Neurussland …
Doch ach, die Zeitmaschine erweist sich als kostspieliges Vergnügen. Der Rubel fällt, die Wirtschaft des Landes geht infolge der Sanktionen den Bach hinunter, die Menschen verlieren ihre Ersparnisse. Die aggressive Hysterie der Fernsehpropaganda gegen die »Nationalverräter« und die »fünfte Kolonne« hat bereits erste verhängnisvolle Früchte getragen: Der Mord an dem russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow direkt gegenüber dem Kreml macht das Leben in der russischen Hauptstadt tatsächlich gefährlich und unberechenbar. Die Jagd auf »Volksfeinde«, Gewehrsalven in den Straßen, blutige Provokationen – alles ist jetzt möglich … Es wird nicht mehr viel reale Zeit vergehen, bis die Bürger, hungrig und erschöpft von Gehässigkeit und Unberechenbarkeit, sich fragen werden: »Was zum Teufel sollen wir mit dieser Zeitmaschine? « Mit solchen Fragen beginnen kollektive Illusionen und Imperien zu zerbröckeln. Erinnern wir uns: »Was zum Teufel sollen wir mit diesem Kommunismus?«
Putins Zeitmaschine qualmt. Sie wird kaum freiwillig anhalten. Aller Voraussicht nach wird sie entweder durchbrennen oder explodieren. Ersteres hinterlässt einen üblen Gestank, bei Letzterem fliegen die Splitter in alle Richtungen. Bleibt die Frage: Wo und wie werden sie niedergehen?
Aus dem Russischen von DOROTHEA TROTTENBERG