Die Ereignisse des letzten halben Jahres haben mich dazu gebracht, wieder in die Werke von Marx und Lenin rein zu lesen. Beim Aufschlagen eines verstaubten Bandes von „Revolution und Konterrevolution“ (OK, das ist jetzt von Engels 🙄 ) fiel mir der rote Stempel auf der letzten Seite auf: „38 Kopeken„. In Lenins „Werken“ ist an vergleichbarer Stelle „75 Kopeken“ eingestempelt, außer in „Was tun?“ Das kostete nur „25“ und da war der Stempel auf der Buchrückseite aufgebracht, direkt neben dem vom Verlag aufgedruckten „2,50„. Das waren Ostmark, denn alle Bücher stammen vom Dietz Verlag (Ost-)Berlin und weil in „Was tun?“ 1972 als Druckdatum steht, ist mir nicht nur eingefallen, wo ich, sondern auch wann ich diese verstaubten Schmöker erstanden habe: 1972 in Moskau, an einem Bücherstand irgendwo zwischen Theaterviertel und Leningrader Bahnhof.
Der Himmel über der Straße von Scheremetjewo nach Moskau war so grau wie der Beton über die der Zubringerbus vom Flughafen rumpelte. Der Bus war himmelblau. Anders herum wäre es mir lieber gewesen, aber Oktober sind in Moskau nicht rot, sondern grau und bereits arg kalt. Den Namen des Hotels habe ich vergessen, aber von außen sah es aus, wie eine verkleinerte Ausgabe des „Ukraina„. Die Empfangshalle war gediegen, Marmor, dicke Teppiche, Kronleuchter. Das Zimmer war anders. Keine Ahnung, wie der Architekt das hinbekommen hat, so viele Ecken auf so kleinem Raum unterzubringen.
Das Auspacken ging schnell, denn einer meiner zwei kleinen Koffern war leer. Mein zweiter Gang führte mich zur Wechselstube (mein erster Gang ist immer der Spatengang, das Klo „einscheißen„, sonst fühle ich mich nicht zu Hause ) in die Hotelhalle. Rubel umtauschen. Rubel konnte man damals zwar auch in Deutschland in jeder Bank bekommen, aber nicht in die UdSSR einführen.
Also einen meiner American Express Traveller Cheques eingelöst. Ist heute in Zeiten von Plastic Money kein Begriff mehr, aber damals war das in vielen Ländern die einzig (sichere) Möglichkeit Geld zu transportieren. Der offizielle Kurs Rubel zu Dollar war seinerzeit ein Witz. 1:1, wenn man in Moskau tauschte. Hatte wohl ideologische Gründe und weniger währungspolitische 🙄 Natürlich hätte ich auch auf der Straße wechseln können, denn kaum aus dem Hotel, wurde man schon von dunklen Gestalten angesprochen: „Rubel … Dollar …“ Aber davor hat nicht nur das Reisebüro gewarnt, denn nicht jeder „Wechsler“ wollte wirklich Geld wechseln. Einige waren auf Kundschaft für die Lubjanka aus. Ich habe dann am nächsten Tag trotzdem schwarz getauscht … um die 20 bis 30 Rubel für 1 D-Mark 😯 … aber in der Nähe des Bolschoi. Da war das unauffällig, weil dort immer auch ganz harmlose Zeitgenossen legal Eintrittskarten anboten für Vorstellungen, die sie aus welchen Gründen auch immer nicht besuchen konnten. Oft, wenn nicht fast immer, hatten diese fliegenden Kultur-Händler eine Doppelfunktion. Er fragt „Karte?„, du fragst dagegen „in Dollar?“ … „Да!“ … „Kannste wechseln?“ und zeigst einen Greenback … er strahlt „Да Да“, Deal perfekt.
Die Eintrittskarte brauchte ich dann aber doch nicht, weil damit hatte ich mich bereits in Deutschland übers Reisebüro eingedeckt, für jeden Tag eine, außer An- und Abreisetag. Und das hat perfekt geklappt. Schon beim Einchecken ins Hotel „Ich-hab-den-Namen-vergessen“ wedelte der Livrierte stolz grinsend mit den Karten vor meiner Nase, sogar für Schwanensee, wie er hervorhob, immer der gleiche Platz auf dem Balkon … hab‘ verstanden und 1 Dollar rüber geschoben 😎 Am ersten Abend gab es aber im Bolschoi (Foto: Elisa.rolle/Wikipedia CC 3.0)
… Oper, „Boris Godunow“ von Mussorgski … revolutionär. Viel ist mir davon nicht in Erinnerung geblieben, nur der schaurig ramponierte Vorhang, der wohl mal brokat-gülden gewesen sein muss. An einem Abend musste ich die Kultur im Bolschoi aber ausfallen lassen, unfreiwillig. Aber meine private Ersatzvorstellung war auch nicht schlecht und ich bin mir sicher, so ein Theater haben nicht viele erlebt. Es begann am dritten Abend in Moskau, wenn ich mich recht erinnere. Nach der Vorstellung und dem rituellen Absacker im Rossija oder Intercontinental, den beiden Hotelbars in Moskau, die damals schon jeden Whisky-Wunsch erfüllen konnten, ging’s zurück ins Hotel. Diesmal musste ich die Tür zu meiner verwinkelten Zelle nicht aufschließen, denn sie war schon offen, kurz und knackig aufgetreten … Volltreffer aufs Schloss … das Zimmer durchwühlt 😯 Viel fehlte nicht, aber was fehlte, bewies den Kennerblick des ungebetenen und unbekannten Besuchs. Eine lange Jacke aus Hirschleder, whiskyfarben, mit Gürtel … war damals nicht nur modern, sondern auch sauteuer.
Die Praktika aus ostdeutscher Produktion mit mehreren Objektiven hatten die Kenner nicht angerührt und der zweite Koffer, inzwischen gefüllt mit Büchern von Marx, Engels und Lenin war zwar geöffnet und offensichtlich durchsucht, aber es fehlte nix. Naja, war zwar schwer, aber billig: Ein Koffer voll Kommunismus „für eine Hand voll Dollar“
Das mit der Jacke hat mich echt geärgert, denn für die hatten sich meine Eltern krumm gelegt und außerdem war sie warm mit ihrem eingeknüpften Wollplaid. Reisegepäckversicherung 💡 Melden! Zurück zum Hotelempfang. Tatsächlich konnte ich einen Hotel-Werktätigen dazu bewegen, sich den Tatort anzusehen, wobei diesen Proletarier die kaputte Hotelzimmertür mehr interessierte als meine Lederjacke. „Polizei?“ … Blick auf die Uhr „Morgen“ … „Neue Tür? Anderes Zimmer?“ … „Morgen, morgen“ 😯 „Bei offener Tür schlafen?“ … „Alles ehrliche Menschen …“ ich guck ihn an, guck die Tür an … Iwan … ja nennen wir ihn Iwan, ändert Taktik „… kommen nicht zweimal …“ Aha … das klingt plausibel.
Es muss sich in dieser Nacht aber doch noch etwas getan haben, denn ich musste nicht zur Polizei … die war schon da … in der Hotellöbby. Unübersehbar und filmreif standen da zwei lange Ledermäntel, schwarz, nicht whiskyfarben, die zielstrebig auf mich zusteuerten. Ich konnte das Nicken des Concierge hinter meinem Rücken förmlich spüren. Die beiden Gestapo-Abziehbilder – es fehlte nur der Schlapphut – haben mich in die Mitte genommen und vor die Tür gebracht. OK, das ist jetzt ein schlechter Film … mein Protest, „ich hab noch nicht gefrühstückt!„, blieb unbeantwortet. Vor dem Hotel wartete ein schwarzer Wolga … M 21 … erster Gedanke: dass der noch fährt … nicht abgeschlossen. Zweiter Gedanke: Och, doch ehrliche Leutz hier, wenn man das richtige Auto fährt. Die zwei schwarzen Mäntel setzen sich nach vorn, nachdem ich auf der Rückbank Platz gequetscht habe. Dritter und vierter Gedanke: das kennste anders aus Filmen … wieder was gelernt und: für einen ZIL biste wohl nicht wichtig genug.
Die Fahrt war zu kurz, um als Stadtrundfahrt durchzugehen. Nach ein paar Ecken, weniger als mein Hotelzimmer, fuhren wir in den Hof des Seitentrakts eines Gebäudes, das mir von Fotos bestens bekannt war. Die Lubjanka. Toll, lernste die sogar von Innen kennen … steht ja sonst nicht auf dem Sightseeing-Programm 😛 Von morgens bis kurz vor Einbruch der Dunkelheit wurde ich über die typisch kapitalistische Tat verhört, wobei es aber nie um einen Einbruch ging, sondern darum, dass ich den Einbruch selbst nur vorgetäuscht hätte, um die Lederjacke auf dem Schwarzen Markt für Rubel zu verhökern. Dabei war der Diebstahl klassenkämpferisch doch völlig korrekt: Ich, der Kapitalist, wurde im real existierenden Sozialismus vom Proletariat enteignet 😎
Zum Glück hatte ich vor der Moskau-Reise zur Vorbereitung aufs Abi noch einmal Kafkas „Prozess„ gelesen und so konnte mich nix aus der Ruhe oder zur Verzweiflung bringen. Ich hab’s dann mit der Lehre versucht, die ich für mich aus Kafka gezogen hatte: Humor hilft. Aber mein Geständnis, ich hätte die Lederjacke im GUM gegen eine Fufaika getauscht, kam nicht gut an.
Während des Verhörs haben Holmes und Watson öfter die Taktik geändert und das vorzuwerfende Verbrechen. Am erfolgversprechensten erschien den Westentaschenpsychologen die Masche des verbotenen Devisentauschs … machte schließlich jeder. Tatsächlich steckten in meiner geklauten Jacke mehr Rubel als ich „offiziell“ über Amex getauscht hatte, aber Waldi ist ja nicht blöde und gibt das bei der Diebstahlanzeige oder schon im Hotel an 😎 Meine Geldbörse wollten sie sehen aber darin waren nur ein paar Rubel, viele Ostmark und die Travellerschecks drin. Wovon ich denn heute in Moskau hätte leben wollen, wollten die geheimen Eichkater wissen. „Na sie haben mich davon abgehalten im Hotel einen weiteren Scheck einzulösen„. Das brachte die Herren offenkundig nicht weiter und ihre Blicke wurden immer dunkler, so wie es draußen immer dunkler wurde. Da hatte ich dann die Schnauze voll und begann wie ein Rohrspatz in einem Mischmasch aus Russisch und Polnisch zu fluchen, dass ich jetzt wegen dieses Zinnobers meine Kremlbesichtigung verpasst hätte und mein Frühstück sowieso und vielleicht sogar meinen allabendlichen Bolschoi-Besuch verpassen könnte und überhaupt: Ich will jetzt den deutschen Konsul sprechen! Pironje!
Da hätten Sie zwei russische Kinnladen herunterfallen sehen und hören können, als den zwei KGB-Clowns klar wurde, dass ihr Verdächtiger alles, was sie in den vergangenen Stunden getuschelt haben, verstanden hat
Dann ging es ganz schnell. Waldi bekam eine eigene „Reiseführerin“ für die letzten Tage von Moskau … hübsch … die mich von der Lubjanka zum Hotel brachte und danach sogar ins Bolschoi fahren/begleiten wollte, aber nach Kultur war mir an diesem Abend nicht mehr … genug Drama. Nur noch was Gutes essen und danach den Whisky im Interconti und fertig. Dorthin hat mich … nennen wir sie mal … Natalia
… sogar begleitet, aber ganz klassenbewusst vor der Tür gewartet … dabei hatte es an diesem Tag in Moskau schon am Nachmittag zu schneien begonnen.
Im Hotel „Ich-hab-den-Namen-vergessen“ hatte ich inzwischen ein neues Zimmer (mit intakter Tür) und alle übrig gebliebenen Klamotten waren genauso wie im alten Schrank verstaut … perfekt. Nur eine Bestätigung über den angezeigten Diebstahl habe ich nicht bekommen 😦 Egal, Schwamm drüber und vergessen.
Nicht ganz, denn etwa ein halbes Jahr danach hatte ich eine Art Deja-vu und wurde an diese Groteske erinnert. Ich war inzwischen zu „Höherem“ berufener Soldat in Spe und meine Russisch-Kenntnisse hatten andernorts Interesse erweckt und so saßen mir eines Tages wieder zwei geheime Eichkater gegenüber, diesmal ohne filmreife schwarze Ledermäntel, ganz in Zivil. Das werden Sie mir jetzt nicht glauben, aber die beiden „Neumanns“ wussten von meinem unfreiwilligen Besuch in der Lubjanka 😯
Tja, so war das im Kalten Krieg. Jeder beschnüffelt jeden, nicht erst seit PRISM & Co. und Eddy Snowden.